Estland: Hetze gegen moderate EU-Kritiker

Kampagne gegen EU-Kritiker


Bei den estnischen Parlamentswahlen im März wurden die gemäßigt EU-kritische Zentrumspartei und ihr Spitzenkandidat Opfer einer Kampagne, mit der die regierenden Rechtsparteien die Angst vor Rußland schüren wollten.

10.3.2011.
Seit der Unabhängigkeit Estlands 1991gilt die Zentrumspartei als eine feste Größe im Parteiensystem des kleinen Landes und ist mit ca. 9.000 Mitgliedern die zweitstärkste Partei. Geführt wird die Partei, die sich selbst als sozial-liberal bezeichnet, von Edgar Savisaar, langjähriger Bürgermeister der Hauptstadt Tallin, der auch zu Beginn der Unabhängigkeit kurzzeitig Premierminister war. Ihre Gegner bezeichnen die Zentrumspartei hingegen oftmals als „linkspopulistisch“, weil sie im Estland der freien Markt- und Raubwirtschaft für einen Sozialstaat nach skandinavischem Modell eintritt.

Seit 2005 wird das Land nun geführt von Premierminister Andrus Ansip und seiner rechtsliberalen Reformpartei mit wechselnden Koalitionspartnern. Unter Ansip ratifizierte das Land den EU-Vertrag und führte als erster baltischer Staat den Euro ein. Mit eisernem Sparkurs und einer knallharten neoliberalen Politik brachte Ansip das angeschlagene Land „erfolgreich“ durch die Wirtschaftskrise, allerdings auf Kosten der weiteren Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.

Als Erbe der sowjetischen Besatzung besitzt Estland, wie auch sein Nachbar Lettland eine starke russische Minderheit von knapp 30%, lediglich in Litauen sind es nur 5%. Viele Russen sind in der Statistik aber gar nicht erfaßt, da sie gar keine estnische Staatsbürgerschaft beantragt haben, gar kein estnisch sprechen und auch sonst mit diesem, ihnen fremden Staat nichts zu tun haben wollen. So sind dann auch 130.000 der 1,5 Mio. Bürger Estlands offiziell staatenlos. Viele der estnischen Russen betrachten eher Rußland als ihre Heimat.

Die Zentrumspartei wendet sich als einzige Parlamentspartei in Estland gegen die einseitige Westbindung des Landes und versucht auch gute Beziehungen zu Rußland aufzubauen. Viele Estland-Russen, die in den Staat integriert sind, wählen daher Zentrum, was in der Vergangenheit dazu führte, daß Edgar Savisaar, Zugpferd der Partei, als angeblicher ehemaliger „Geheimagent Rußlands“ in den Medien bezeichnet wurde.

Auch in ihrer EU-Kritik wird die Partei ihrem Namen gerecht und schlägt eine moderate Linie ein. Dennoch forderte sie einen Volksentscheid über den Beitritt zur EU. Selbst als die Partei 2006 in eine Koalition mit rechtsliberalen, radikal prowestlichen Parteien eingebunden war, beharrte sie lange auf einem Volksentscheid über die EU-Verfassung, gab aber letztlich klein bei, da die EU auch in der estnischen Bevölkerung unglaublich populär ist und ein blindes „Ja“ zur EU-Verfassung abzusehen war.
Die einseitige Orientierung zur Westbindung der meisten Parteien in den baltischen Staaten liegt in der Vergangenheit begründet – man erinnert sich an die Zeit der jahrzehntelangen Besatzung durch Rußland und fürchtet sich so sehr vor dem großen Nachbarn, daß ein Kniefall vor Washington und Brüssel gegen gewissen Schutz mit Freuden ausgeführt wird.

Im Dezember 2010 wurde bekannt, daß der russische Eisenbahnminister Vladimir Yakunin sich mit Savisaar getroffen habe und Geld für die Errichtung einer orthodoxen Kirche in Tallin spenden wollte. Die estnische Presse brachte sofort das (bis heute unbewiesene) Gerücht in Umlauf, die Gelder für die Kirche wären nur Tarnung, in Wirklichkeit würden sie als Wahlkampfspende für die Zentrumspartei verwendet. Daraufhin setzte das scheinheilige Trommelfeuer der „West-Parteien“ ein : Die Sozialdemokraten kündigten die Koalition im Talliner Stadtrat mit dem Zentrum, die rechtsliberale Reformpartei von Premierminister Andrus Ansip ließ verlauten, niemals mit der Zentrumspartei zu koalieren, so lange sie von Savisaar geführt werde. Dabei vergaß sie, daß beide Parteien vor wenigen Jahren schon einmal gemeinsam regiert hatten.
Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves von den eher mitte-rechts orientierten „Sozialdemokraten“ erklärte, er würde keine Regierung vereidigen der Savisaar angehöre. Der Chef der Zentrumspartei war als „Einflußagent des Kremls“ abgestempelt.
In Wirklichkeit sollte man allerdings lieber den Staatspräsidenten Ilves genauer beobachten. Denn dieser Exil-Este lebte jahrzehntelang in den USA und arbeitete in den 80iger und 90iger Jahren beim US-Propagandasender „Radio Free Europe“ als Leiter der estnischsprachigen Redaktion.

DIE WAHL

Edgar Savisaar hielt trotz der Kampagne durch und traf sich mit dem russischen Minister. Die Wähler honorierten dieses Stehvermögen und machten Savisaar zum Abgeordneten mit den meisten Wählerstimmen (23.012 Stimmen), noch vor Premierminister Ansip (18.981).
Der Zentrumspartei wurden vor der Wahl allerdings schwere Verluste von mindestens 10% prognostiziert. Die Umfrage fand offensichtlich in den Villenvierteln der Talliner IT-Yuppies statt, nicht in den heruntergekommenen Plattenbausiedlungen sowjetischer Bauart.
So verlor die Partei nur 3% der Stimmen und 3 Mandate, was sie mit 23,3% immer noch zur zweitstärksten Gruppierung nach der regierenden Reformpartei (28,6%) machte.

Deren Koalitionspartner, das rechtskonservative Bündnis aus Union Pro Patria und Res Publica, legten auf 20,5% zu.

Ebenfalls Gewinne verbuchen konnten die Sozialdemokraten (von 10,6% auf 17,1%), die sich als „Schein-Alternative“ präsentieren konnten. Allerdings muß man ihnen zu Gute halten, daß sie 2009 aus Ansips Koalition ausstiegen, weil sie dessen Sparprogramm nicht komplett mittragen wollten.

Die linksliberalen Grünen (3,8%) schafften ebenso wie die bäuerlich-linke Volksunion (2,1%) des ehemaligen Staatsoberhauptes Arnold Rüütel (1990-92 und 2001-06) nicht den Einzug ins Parlament. Die Volksunion beging den Fehler, nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten sich der Regierung Ansip als Koalitionspartner anzudienen. Zwar stellte sie ähnliche soziale Forderungen wie die Sozialdemokraten, wurde aber in der Koalition gnadenlos untergebuttert, zumal ein führendes Mitglied der Partei (Villu Reiljan) in einen Korruptionsskandal verwickelt war.
Die Volksunion, mitgliederstärkste Partei Estlands, die unter verschiedenen Namen (u.a. „Agrarunion“) seit der Unabhängigkeit im Parlament saß, gehört der „Allianz für ein Europa der Nationen“ an, einer Fraktion im Europäischen Parlament.

Ebenfalls an der 5%-Hürde scheiterten die Russische Partei Estlands (0,9%), die Christdemokraten (0,5%) und die Selbstständigkeitspartei (0,2%).

Nach dem Ausscheiden der Volksunion aus dem Parlament und der „Zurechtstutzung“ der Zentrumspartei werden es die Regierungsparteien noch leichter haben, ihre neoliberale „Reform“- und Kürzungspolitik durchzusetzen und sich als „glühende Pro-Europäer“, getreue NATO-Alliierte und IWF-Musterschüler beweisen wollen. Zu leiden haben wird darunter der ärmere Teil der Bevölkerung.



Kay Hanisch
März 2011