Überraschung in Armenien

Was will Lewon Ter-Petrosjan?

Vor gut einem Jahr meldete sich Armeniens ehemaliger Staatspräsident nach einer neunjährigen Auszeit mit Massenkundgebungen wieder auf der politischen Bühne zurück.
Doch was will der umstrittene Politiker, der überraschend bei der Präsidentenwahl 2008 den zweiten Platz belegte, eigentlich?

Für die einen ist Lewon Ter-Petrosjan ein Held. Einer, der Armenien in die Unabhängigkeit führte und im Land während einer schweren Zeit für eine gewisse Stabilität sorgte. Einer, der die unterdrückte armenische Minderheit im benachbarten Aserbaidschan beschützte und auch vor einem militärischen Konflikt mit dem größeren muslimischen Nachbarstaat nicht zurückschreckte.
Für die anderen ist er ein Vaterlandsverräter, der die von Armenien besetzten aserbaidschanischen Gebiete wieder zurückgeben will und nicht nur seine Gegner verbinden mit seiner Präsidentschaft kalte Winter in ungeheizten Wohnblöcken ohne Strom, was aber dem Wirtschaftsembargo der Nachbarstaaten Türkei und Aserbaidschan anzulasten ist.

1988 gehörte Lewon Ter-Petrosjan, seines Zeichens promovierter Historiker, zu den Gründern des „Komitees Nagorno-Karabach“. Dieses Gebiet ist zwar von christlichen Armeniern bewohnt, gehörte administrativ aber zur aserbaidschanischen Sowjetrepublik. Das Komitee forderte nicht weniger als die Angliederung dieses Gebietes an die Sowjetrepublik Armenien, zumal die Karabach-Armenier auch zu Sowjet-Zeiten in Aserbaidschan benachteiligt wurden.
Damit war bereits der Grundstein für eine Nationalbewegung gelegt. Als die UdSSR in den letzten Zügen lag, formierte sich eine neue Partei, die Armenische Allnationale Bewegung (HHSch). 1990 wurde Ter-Petrosjan zum Parteivorsitzenden der HHSch und zum Parlamentspräsidenten der armenischen SSR, 1991 dann zum Staatsoberhaupt der unabhängigen Republik Armenien gewählt.
Als Präsident verfolgte Ter-Petrosjan das Ziel, die Unabhängigkeit Armeniens auszubauen und gleichzeitig die Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu verbessern. Mit letzterem hatte er nicht sonderlich viel Erfolg. Repressalien und Massaker durch das regierende Volk der muslimischen Azeris in Aserbaidschan beantworteten die in Nagorno-Karabach lebenden Armenier mit einem bewaffneten Aufstand und der Erklärung der Unabhängigkeit. Obwohl Armenien offiziell in dem Konflikt zwischen Karabach-Armeniern und der aserbaidschanischen Zentralregierung neutral blieb, unterstützte die Regierung in Eriwan die Aufständischen mit Waffen, Versorgungsgütern und Freiwilligen. Aserbaidschan und die mit ihm verbündete Türkei verhängten ein Wirtschaftsembargo gegen den kleinen Kaukasus-Staat, der in den 90iger Jahren besonders darunter zu leiden hatte. Da der gewalttätige Konflikt in Georgien auch den Landweg zur Schutzmacht Rußland blockierte, baute Ter-Petrosjan die Beziehungen zur Islamischen Republik Iran stärker aus. Gleichzeitig versuchte er sich der russischen Dominanz zu entziehen (russische Soldaten überwachten die Grenze zur Türkei und unterhielten große Stützpunkte im Land), in dem er die Beziehungen zum Westen behutsam ausbaute und Armenien der OSZE und der „NATO-Partnerschaft für den Frieden“ beitrat.1996 wurde Ter-Petrosjan bei einer umstrittenen Präsidentschaftswahl wiedergewählt. Die unterlegenen Oppositionskandidaten warfen dem Präsidenten „Wahlmanipulation“ vor, Behörden hätten auf Bürger und Angestellte Druck ausgeübt, für den Präsidenten zu stimmen.
Massendemonstrationen waren die Folge und nach dem Versuch der Protestierenden, das Parlament zu stürmen, ließ Ter-Petrosjan Armeeeinheiten in Eriwan auffahren, die Innenstadt mit Panzern abriegeln und ein Versammlungsverbot durchsetzen.
Doch die Krise dauerte an. Bis zum 3. Februar 1998 konnte sich Ter-Petrosjan noch im Amt halten, dann trat er zurück.
Als er 1997 den Stufenplan der OSZE akzeptierte, der vorsah, einen Frieden mit Aserbaidschan zu erzielen und die besetzten Gebiete an den muslimischen Nachbarstaat zurückzugeben, verlor er die Unterstützung des bisher loyalen Militärs. Dabei hatte er nur folgerichtig erkannt, daß die Zeit gegen Armenien
arbeitet:

1. Das Embargo von Türkei und Aserbaidschan und die geschlossenen Grenzen setzten dem kleinen rohstoffarmen Land weiter wirtschaftlich zu.

2. Die Abhängigkeit von Rußland wurde dadurch immer stärker.

3. Der Krieg gegen Aserbaidschan und die Besetzung eines Korridors zwischen Berg-Karabach und Armenien war zwar moralisch gerechtfertigt, verstieß jedoch gegen internationales Recht.

4. Die zunehmenden Einnahmen aus dem Erdölgeschäft würden Aserbaidschan wirtschaftlich und militärisch stärker machen und die Verhandlungsposition von Armenien ebenso schwächen wie die Möglichkeiten auf einen Sieg bei einem zweiten Krieg.

Die Schlüsse Ter-Petrosjans waren unpopulär, aber logisch. Der letzte Punkt hat sich mit der starken Aufrüstung der aserbaidschanischen Armee bereits bewahrheitet.
Die Opposition warf dem Präsidenten Verrat der nationalen Interessen vor. Verschiedene taktische Manöver wie der Ernennung des „Präsidenten“ der „Republik Berg-Karabach“, Robert Kotscharjan, zum armenischen Premier brachten auch nichts mehr.
Nachdem 40 Abgeordnete der Regierungsfraktion zur Opposition gewechselt waren und führende Verbündete des Präsidenten, darunter der Außenminister, der Zentralbankchef und der Parlamentspräsident, im Zuge der Krise zurückgetreten waren, warf auch Ter-Petrosjan das Handtuch, verließ die politische Bühne und zog sich in seinen Beruf als Wissenschaftler zurück.

Die kurz darauf angesetzten Neuwahlen gewann Premier Robert Kotscharjan, der als Vertreter einer „harten Linie“ gegen Aserbaidschan kräftig am Stuhl des Unabhängigkeitspräsidenten mitgesägt hatte, wobei zahlreiche seiner Gegenkandidaten wieder der Vorwurf der Wahlfälschung erhoben. In den folgenden Jahren versank Ter-Petrosjans Armenische Allnationale Bewegung in der Bedeutungslosigkeit der außerparlamentarischen Opposition.

Kotscharjan gelang es, das Land wirtschaftlich weiter zu stabilisieren. Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner erhöhte sich von 730 US-Dollar (1995) auf 1.920 US-Dollar (2008), dennoch bleibt Armenien ein sehr armes Land. Auch sind die Energieengpässe nicht mehr so groß wie in den 90iger Jahren. Dies liegt u.a. daran, daß das veraltete und nur 25 km von der Hauptstadt entfernte Atomkraftwerk Metsamor (Tschernobyl-Typ) noch unter Ter-Petrosjan wieder angeworfen wurde.
Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, erkauft mit verstärkter Abhängigkeit von Rußland, sicherte Kotscharjan die Wiederwahl 2003. Nach seiner zweiten Amtsperiode durfte er 2008 nun nicht wieder antreten.
Als seinen Wunschnachfolger hatte er sich den Verteidigungsminister Sersch Sarkissjan erwählt, den er vor der Wahl zum Premier ernannte. Der Sieg des Kandidaten der Staatsmacht schien von vornherein festzustehen, zumal er von den staatlichen Medien hofiert wurde, während man über seine Gegenkandidaten kaum etwas erfuhr.

Das plötzliche Auftauchen Ter-Petrosjans aus der politischen Versenkung vor einem reichlichen Jahr überraschte offenbar auch die Herrschenden.

Leider haben auch die deutschsprachigen Medien hierzu wenig oder gar keine Hintergrundinformationen geliefert. Ter-Petrosjan wurde als brillanter Rhetoriker dargestellt, der mit seinen zündenden Reden zehntausende Menschen gegen die Regierung auf die Straße brachte. Kaukasus-Kenner Peter Scholl-Latour, der 1996 auch Armenien und Berg-Karabach bereiste, beschrieb Ter-Petrosjan als kühlen, distanzierten Technokraten und weniger als Volkstribun.

Rußlandfreundliche Medien in Deutschland wie die Tageszeitung „Junge Welt“ witterten sofort die Handschrift der USA hinter der Kandidatur und erkannten den Versuch einer „Orangenen Revolution“ wie sie in der Ukraine stattgefunden hatte.
Dafür spricht zunächst, daß den USA die Abhängigkeit Armeniens von Rußland sowie die engen freundschaftlichen und militärischen Verbindungen zwischen beiden Staaten ein Dorn im Auge sind. Armenien ist ein strategischer Brückenkopf Rußlands und stört die USA empfindlich bei dem Versuch, Rußland mit pro-westlichen Regimes und US-Militärstützpunkten einzukreisen.
Ob die USA mit Ter-Petrosjan für diesen Zweck allerdings auf den richtigen Kandidaten setzen, ist zweifelhaft.

Zwar bediente sich die Opposition um den Ex-Präsidenten ebenfalls der Farbe orange und errichtete Zeltstädte und Protestcamps in Eriwan wie seinerzeit die Opposition in der Ukraine.
Doch dürfte Ter-Petrosjan wohl eher armenische als amerikanische Interessen im Blick haben. Die guten Kontakte zu den USA könnten zu besseren Beziehungen zu den US-Verbündeten Aserbaidschan und Türkei und zu Aufhebung derer Sanktionen führen, was wirtschaftlich extrem wichtig wäre. Auch die Abhängigkeit von Rußland, das mittlerweile das gesamte armenische Eisenbahnnetz dank eines Knebelvertrages kontrolliert, könnte verringert werden.

Ein anti-russischer Bulldozer vom Typ des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili ist
Ter-Petrosjan trotzdem nicht. Er ist sich der Abhängigkeit und der Notwendigkeit guter Beziehungen zu Moskau durchaus bewußt. Ein Armenien unter seiner Führung hätte wohl eher eine neutrale Position im USA-Rußland-Konflikt eingenommen, als die eines Pentagon-Brückenkopfes. Noch im Wahlkampf hatte Lewon Ter-Petrosjan seine Kontakte nach Rußland intensiviert, um offenbar im Kreml keine Unruhe aufkommen zu lassen.

Die Präsidentschaftswahl am 19. Februar 2008 endete erwartungsgemäß mit dem Sieg des Regierungskandidaten Sersch Sarkissjan von der Republikanischen Partei (HHK), der bereits im ersten Wahlgang 52,8% der Stimmen erhielt. Ter-Petrosjan lag mit 21,5% auf Platz zwei, gefolgt von Ex-Parlamentspräsident Artur Baghdasarjan mit 16,7%.

Weitere Kandidaten waren Vahan Hovhannisian, Mitglied der nationalistischen Traditionspartei Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnak), Artaches Guegamian, Führer der Nationalen Einheitspartei, Wasgen Manukjan, seines Zeichens früherer Premierminister, x-facher Präsidentschaftskandidat (mindestens aber 3x) und Vorsitzender der National-Demokratischen Union, sowie Aram Harutyunian von der Nationalen Solidaritätspartei und Tigran Karapetian (Volkspartei).

Baghdasarjans Partei Land des Rechts (OE) wechselte nach der Wahl ins Regierungslager und wurde mit Ministerposten belohnt.
Es folgten – fast schon traditionell bei armenischen Präsidentschaftswahlen – die Vorwürfe der Opposition, die Regierung habe Wahlbetrug begangen, die obligatorischen Massenproteste, ein kurzer Ausnahmezustand, Verhaftung Oppositioneller (für Ter-Petrosjan als Promi gab es „nur“ Hausarrest) und nach ein paar Wochen kehrte wieder Ruhe ein.

Daß ein früherer Präsident, der bei seinem Abgang extrem unpopulär war und von dessen Herrschaft die meisten Bürger den Krieg mit Aserbaidschan, die Folgen der Wirtschaftsblockade, lange Stromausfälle und ungeheizte Wohnblocks in Erinnerung hatten, bei der Wahl über 20% der Stimmen holte, ist schon erstaunlich. Hinzu kommt, daß die Medien fast schon kampagnenhaft diese Zustände herausstellten, um dem Kandidaten zu schaden.

Das unter diesen Umständen erzielte Wahlergebnis zeigt, welch breite Unzufriedenheit mit der Regierungsclique es im Volk geben muß. Denn wer im heutigen Armenien nicht zu den herrschenden Clans zählt, hat so gut wie keine Aufstiegschancen. Deshalb fiel der Ter-Petrosjans harsche Kritik am „korrumpierten Regime“ von Kotscharjan, Sarkissjan und Co. offenbar auf so fruchtbaren Boden.
Ohne eigene tragfähige Organisation schaffte es der Ex-Präsident bei seinen Kundgebungen zeitweilig bis zu 100.000 Menschen (bei drei Mio. Einwohnern) auf die Straße zu bringen. Seine Unterstützer reichten von reichen Geschäftsleuten (die er bei aller Kritik an Korruption und Vetternwirtschaft aussparte) über verschiedene außerparlamentarische Linksparteien wie die sozialistische Volkspartei von Armenien, die Sozialdemokraten, die Partei „Neue Zeit“, die Vereinigung „Azadakrum“ und die sozialistische Armenische Republikanische Partei bis hin zu der mit sieben Abgeordneten im Parlament vertretenen Zentrumspartei „Zharangutiun“ (zu deutsch: „Erbe“). Die inzwischen von Ararat Zurabian geführte Armenische Allnationale Bewegung (HHSch) unterstützte ebenfalls ihren früheren Chef Ter-Petrosjan.

Bei den gewaltsamen Protesten, die nach der Wahl folgten, kamen mindestens acht Personen ums Leben, darunter auch ein Polizist. Mehrere hochrangige Beamte, Diplomaten und Minister wechselten in das Lager der Opposition.
Nach den ersten Toten forderte der 63-jährige Ter-Petrosjan seine Anhänger zum Rückzug auf:
„Unsere Kräfte sind nicht gleich verteilt und wir sind von Soldaten umzingelt.“

Seit diesen Worten ist es ruhiger geworden um die armenische Opposition. Zumindest, was man davon im Ausland wahrnimmt.

Eines scheint die Kandidatur Ter-Petrosjans allerdings bewirkt zu haben. Der neue Präsident Sarkissjan scheint Kompromissen mit den Nachbarstaaten zugänglicher zu sein als sein aus Karabach stammender Vorgänger. Er traf sich am Rande eines Fußallspieles mit dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül, was von der Bevölkerung in beiden Ländern umstritten war und sucht offenbar nun den Ausgleich mit Aserbaidschan.

Feststeht, mit Hilfe Lewon Ter-Petrosajans sollte ein Kurswechsel Armeniens in Richtung Westen eingeleitet werden. Es ist allerdings klar, daß sich die USA dabei verrechnet haben – sowohl was den erhofften Wahlsieg des Kandidaten angeht, als auch was dessen politische Ausrichtung angeht. Denn bei aller Kompromißbereitschaft und allen taktischen Zugeständnissen – für Ter-Petrosjan hatten die Interessen Armeniens immer oberste Priorität.
Wenn man beim Beispiel der Orangenen Revolution in der Ukraine bleiben will: er dürfte wohl eher mit Premierministerin Julija Timoschenko, als mit dem Präsidenten Viktor Juschtschenko vergleichbar sein.

Oder vielleicht legen die USA nach ihrem Georgien-Desaster gar keinen Wert mehr auf hundertprozentige Vasallentreue?





Kay Hanisch